Jüdisches Leben in Biebesheim am Rhein


Jüdisches Leben in Biebesheim am Rhein ab 29.03.1557

„Die Annahme, Juden seien bereits mit den Römern an den Rhein gekommen, ist sicherlich nicht unbegründet, aber alle Versuche, ihre Geschichte in den Rheingegenden bis in die Antike zurückzuverfolgen, schlugen fehl.“ Erste sichere Nachweise von Juden im ostfränkisch-deutschen Gebiet stammen aus der späten Karolingerzeit. Dies betrifft zwar noch nicht Hessen, aber mit Worms dennoch die nähere Umgebung Biebesheims. Dort sind Juden um 960 nachweisbar. Viele der frühen jüdischen Gemeinden hatten sich zu dieser Zeit schon etabliert und „zu höchster geistiger Blüte entwickelt“.

Zu welchem Zeitpunkt sich Juden in Biebesheim niederließen, lässt sich nicht genau nachweisen. Forscher gehen nach aktuellem Stand davon aus, dass sich schon vor dem 12. Jahrhundert die ersten Juden im Raum Biebesheim und Umgebung ansiedelten. Die erste urkundliche Erwähnung von Juden in Bezug auf Biebesheim stammt vom 29.März 1557, Auf sein Bitten gewährt Landgraf Phillip von Hessen dem Juden Gumprecht das Wohnrecht in Biebesheim, solange er weder Wucher treibt noch Christus lästert. Für den Schutz hat er ebensoviel zu zahlen wie die übrigen in der Landgrafschaft gesessenen Juden.“ Darüber, ob dieser Mann namens Gumprecht dieses Wohnrecht in Anspruch nahm, sagt die Quelle allerdings nichts aus. Lediglich die Möglichkeit bestand dazu.

Die zweite urkundliche Erwähnung von Juden in Biebesheim findet sich im Jahre 1630.

In einer Amtsrechnung wird Biebesheim im Zusammenhang mit Zahlungen von Judengeleit genannt. Dieses Geleit kann als eine Art Schutzzahlung verstanden werden, die an den entsprechenden Landesherren gezahlt wurde und den Reisenden somit eine Sicherheit in den Herrschaftsgebieten bot.

Die Abgaben, welche Juden leisteten, waren höher als jene der Christen. Allerdings stand es ihnen frei, ein solches Geleit überhaupt zu zahlen.

Aufgrund der spärlichen Quellen und Dokumente zur Geschichte der Biebesheimer Juden finden sich nur selten Hinweise darauf, dass auch schon vor dem 17. Jahrhundert Juden dort ansässig waren. Aber durch die ab 1500 immer häufiger auftretenden Vertreibungen aus den Städten hatten sich immer mehr Juden auf dem Land angesiedelt. Sicherlich bildete auch Biebesheim hier keine Ausnahme und man kann davon ausgehen, dass Juden schon vor ihrer ersten Erwähnung hier heimisch waren. Ein Indiz hierfür könnte der jüdische Friedhof in Groß-Gerau sein, der im 13. Jahrhundert entstand. Die zweite Quelle die Biebesheimer Juden betreffend findet sich erst rund ein Jahrhundert später, im Jahre 1728. Aus einer Quelle des Darmstädter Staatsarchivs ist folgendes zu lesen: „Zeitleihe des Hofguts Lusthausen für die Schutzjuden Mäntle zu Biebesheim und Gerson zu Stockstadt,1728“

Nur sechs Jahre später, im Jahre 1736, findet sich ein Eintrag der Chronik der Biebesheimer Kirchengemeinde, der Bezug auf die damals ansässigen Juden nimmt.

Folgendes wurde damals vermerkt: „Itzo1736, den 22. August, bestanden mit dem Rathaus, Pfarr- und Schulhaus 115 Gebäude und Personen alt und junge 725 und mit den 4 Judenfamilien 752 Personen.“ Der damalige Anteil der Juden in der Gesamtbevölkerung lag mit 27 Personen also bei knapp 4 Prozent. Antijüdisch heißt es im zweiten Teil des Eintrages weiter: „Gott lass uns den Wachstum mit Dank erkennen, und bekehre die Juden, oder tilge sie aus unserem Ort, weil sie der Gemeinde das edelste Blut aussaugen.“ Im letzten Teil dieses Eintrages erwähnt der Verfasser den Erbau einer jüdischen „Schul“, die folglich in den Jahren zwischen 1720 und 1730 errichtet wurde.

Kurz darauf, um 1740, folgt der erste Eintrag über die Geburt eines jüdischen Kindes in Biebesheim. Es trug den Namen Daniel Lazarus. Aus der standesamtlichen Registrierung ab 1764 wird ersichtlich, dass er zwischen den Jahren 1765 und 1787 Vater von 6 Kindern wurde. „Am 10.Nov. 1798 abends um 4 Uhr starb Daniel Lazarus, genannt Jachil, er war hiesiger Schutzjude und wurde am 11. früh morgens in Groß-Gerau begraben. Er war 58 Jahre alt.“

Von der frühen Neuzeit bis hin zum Zeitalter der Emanzipation, wurde jeder Jude, der in Biebesheim lebte, in den Schutz der Landesherren genommen. Schutzjude war ein solcher, der durch einen Schutzbrief das hiesige Wohnrecht erhielt. Dieses Wohnrecht konnte zeitlich begrenzt, aber auch für die gesamte Lebenszeit gewährt werden. Schutzbriefe erhielt man wie schon zuvor erwähnt gegen eine Zahlung. War es dem jüdischen Mitbürger nicht möglich dieses Geld aufzubringen, wurde ihm der Status des Schutzjuden entzogen. Infolge dieses Entzugs ging auch sein Wohnrecht verloren und er wurde zum „Bettlerjuden“.

Mit Einführung der Familiennamen für jüdische Mitbürger zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde eine genealogische Erfassung erst möglich. 1871 fand die Entwicklung der Gleichstellung der Juden durch deren Festschreibung in der Reichsverfassung ihren Abschluss. „Ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933 waren die jüdischen Bürger als Staatsbürger akzeptiert.“

Die Namen der ersten in Biebesheim lebenden Juden


Die ersten dieser Bürger sind für Biebesheim ab etwa 1725 genealogisch nachweisbar. Da erst ab dem Jahre 1809 der Familienname für Juden zur Pflicht wurde, war es üblich, dass sie durch ihren Vornamen und den vor- oder nachgestellten Zusatz „Jud“ bezeichnet wurden.

Folgende Namen werden zu dieser Zeit genannt:
Meyer Moses * um 1725
Daniel Lazarus, genannt Jachil, Schutzjude, * um 1740, gest. am 10.11.1798 in Biebesheim am Rhein
Joseph Jakob, Schutzjude, * um 1745
Gottschall Lazarus (Wachenheimer), Schutzjude, * um 1755
Isaak Löw, * um 1765 in Feudenheim
Löw Jakob, Schulmeister, * um 1770
Moses Süßel, Schutz- und Handelsjude, * um 1775
und Moses Feist, Schutz- und Handelsjude, * um 1785


Der Schutzbrief des Biebesheimer Juden Herz Löb


Der Status als Schutzjude


Lange Zeit waren die Juden nicht den anderen Bürgern Biebesheims gleichgestellt, sondern lebten unter dem Status eines Schutzjuden. Sie mussten den jeweiligen Landesherren um Schutz bitten. Der eigentliche Schutz bestand in der Erlaubnis, in bestimmten Gegenden, Städten oder Gemeinden zu wohnen und zu arbeiten. War man nicht im Besitz eines solchen Briefes, musste man das Gebiet verlassen. Allerdings benötigte man auch hierfür eine Genehmigung.

Der Biebesheimer Schutzbrief


Der Schutzbrief des Biebesheimer Juden Herz Löb aus dem Jahre 1805 besteht aus sieben gebundenen Blättern. Diesem Schutzbrief ist die „erneuerte Ordnung“ für Juden von 1765 vorangestellt. Der „erneuerten Ordnung“ folgt eine eidesstattliche Erklärung des Herz Löb, in der dieser erklärt, sich an die Judenordnung zu halten. Erst im Anschluss an diese Erklärung folgt der eigentliche Schutzbrief.

Dieser gliederte sich in eine Präambel gefolgt von 20 Verordnungen, die das alltägliche Leben regelten. Grob gesehen lassen sich diese in zwei Arten gliedern. Zum einen in Verordnungen, die den religiösen Umgang mit Christen und deren Theologie aber auch das innerjüdische religiöse Leben regelten und zum anderen in Verordnungen rein wirtschaftlicher Art.

So war es im ersten Fall zum Beispiel verboten, Lügen über die christliche Religion zu verbreiten oder ihr zu Lästern. Auch der Besitz von antichristlichen Büchern war unter Strafe gestellt, bzw. es wurde die Inquisition angedroht. Theologische Streitgespräche durften sie nicht mit Laien, sondern einzig und allein mit Pfarrern führen. Konvertiten durften nicht wieder zum jüdischen Glauben zurückgeführt werden. Zudem war es verboten, Christen an der Predigt zu hindern oder sie vom Judentum zu überzeugen. An Bet- und Feiertagen war ihnen jeglicher Handel untersagt und sie wurden aufgefordert an solchen Tagen ihr Haus nicht zu verlassen. Weiterhin war jegliche Liebesbeziehung zwischen Juden und Christen untersagt und Verstöße dagegen wurden mit dem Leben bestraft. Das Schächten war nur in jüdischen Häusern gestattet, allerdings war es erlaubt das Fleisch an Christen weiterzuverkaufen. Religiöse Praktiken der Juden mussten vor den Christen unter Verschluss gehalten werden.

Viele Juden mieden daher den engeren Kontakt zu ihren christlichen Nachbarn, denn jedes Gespräch, ging es auch nur um alltägliche Belange, konnte der Mitteilung religiöser Inhalte ausgesetzt sein und somit als ein Überzeugungsgespräch gewertet werden.

Was die wirtschaftlichen Verordnungen betraf, war es an Orten, wo Zünfte bestanden, den Juden verboten, Waren zu kaufen oder zu verkaufen, sobald die Gefahr bestand, dass die Zunft finanziell darunter leiden konnte. Auf den Märkten blieb den Juden nur der „Nachkauf“ von Lebensmitteln. Bei der Kreditvergabe durften sie den Zinssatz von 6 Prozent nicht überschreiten. Zudem war es ihnen untersagt, Ländereien und Güter zu übernehmen oder auf solche Geld zu verleihen. Bei größeren Finanzgeschäften, die eine Summe von 20 Gulden überstiegen, musste stets ein Beamter anwesend sein, um die Ordnungsmäßigkeit des Handels zu bescheinigen.

Zu dem Grundkapital von 600 Gulden, musste jeder Jude jährlich das Schutzgeld aufbringen. Er stand nur solange unter Schutz wie es im Schutzbrief festgehalten wurde. Verletzte der Jude eine der 20 Verordnungen, konnte der Schutzbrief mit sofortiger aufgehoben werden.

Betrachtet man die Einschränkungen, die dieser Schutzbrief mit sich brachte, kann davon ausgegangen werden, „dass die Juden in Biebesheim zwar äußerlich in keinem Ghetto lebten, aber zumindest in einem innerlichen Ghetto blieben.



Über Jahrhunderte hinweg war das jüdische Leben in Biebesheim gegenwärtig. Ihre Blütezeit hatte die jüdische Gemeinde von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ende der Weimarer Republik. Betrachtet man die Zeit von der Emanzipation bis zur Machtergreifung der Nazis, so lässt sich feststellen, dass sich das Zusammenleben der christlichen und jüdischen Bürger Biebesheims, allgemein betrachtet, positiv gestaltete. Selbst die unterschiedlichen religiösen Ansichten und Traditionen wurden gegenseitig toleriert und respektiert.

Nicht nur die jüdisch - deutsche Geschäftstüchtigkeit, sondern auch ihre Offenheit und Großzügigkeit wurde sehr geschätzt. Eines von vielen Beispielen hierfür ist die Familie Ermann, die den Kunden ihres Kaufhauses gerne Kredit gewährte oder ihnen Produkte in Teilmengen verkaufte und den Rest für einen späteren Zeitpunkt aufbewahrte. Ältere Biebesheimer haben diese Geschichten heute noch positiv in Erinnerung. Zu erkennen war dies vor allem bei den zahlreichen Interviews, die im Zuge der Arbeit geführt wurden. Aber nicht nur an den Interviews, die die jüngere Vergangenheit beleuchten sollten, sondern auch an alten Fotoaufnahmen, auf denen jüdische und christliche Bürger gemeinsam abgebildet waren, wurde dies deutlich.

Mit der Machtübernahme Hitlers änderte sich auch die Situation der jüdischen Bürger in Biebesheim; dies war der Anfang des Endes des blühenden jüdischen Lebens in Biebesheim. Die Beziehungen zwischen Juden und Christen brachen zwar nicht schlagartig ab, jedoch ließ sich eine gewisse Distanz, vor allem von der christlichen Seite ausgehend, feststellen. Immer mehr Bürger mieden den Kontakt zu den jüdischen Familien, weniger aus antisemitischen oder nationalsozialistischen Beweggründen, sondern eher aus Angst vor dem Machtapparat des Naziregimes. Durch die Boykottmaßnahmen wurde es für die jüdischen Bürger immer schwieriger ihre Existenz aufrecht zu erhalten. Wer als Jude nach 1933 noch in Biebesheim lebte, sah sich einer täglich wachsenden Diskriminierung ausgesetzt. So begann letztlich die Abwanderung der jüdischen Minderheit. Wo die Möglichkeit bestand, das Land zu verlassen, traf man erste Vorbereitungen und zog die Ausreise nicht allzu sehr in die Länge. Waren die finanziellen und logistischen Voraussetzungen nicht gegeben, suchte man durch den Wegzug aus Biebesheim vorerst Schutz in der „anonymeren“ Großstadt.

Im Jahre 1939 hatten alle jüdischen Bürger Biebesheim verlassen. Oft mussten sie zuvor einen Großteil ihres Besitzes zu Tiefstpreisen „verschleudern“, um „noch rechtzeitig davon zu kommen“. Unter denen, die es nicht schafften, waren auch ehemals in Biebesheim lebende Juden. In den Konzentrationslagern von Auschwitz und Theresienstadt verbrachten sie die letzten Tage ihres Lebens, von anderen Wohnorten her transportiert.

Johanna Mainzer, geb. Mayer
wurde am 26.05.1863 in Biebesheim geboren. Sie war die Tochter des Fruchthändlers Baruch Mayer und der Regine Nordheimer. Am 14.06.1888 heirate sie Nathan Mainzer aus Lorsch. Fortan lebten sie in dessen Heimatort. Am 05.03.1943 starb Johanna Mainzer im KZ-Theresienstadt.

Ida Reinheimer, geb. Frankfurter
wurde am 24. Juli 1876 in Biebesheim geboren. Am 10. August 1919 heiratete sie Abraham Frankfurter. Von da an lebte sie mit ihrem Mann in dessen Heimatort Habitzheim, bis sie von den Nazis in das KZ- Theresienstadt verschleppt wurde. Dort starb sie am 01.08.1943. Nicht ganz drei Monate später kam dort auch ihr Mann Abraham ums Leben.

Liebmann Goldschmidt
wurde am 07.02.1871 in Obersotzbach bei Frankfurt als Sohn des Moses Goldschmidt und der Sara Lewi geboren. Er heiratete Fanny Wachenheimer und zog zu ihr und ihrer Familie nach Biebesheim. Liebmann wohnte mit seiner Frau, die bereits im September 1920 verstarb, in der Bahnhofstraße. Am 26.04.1930 meldete er sich nach Eberstadt ab. Von dort brachten ihn die Nazis ins KZ-Sachsenhausen. Sein Todesdatum wird auf den 14.07.1941 datiert.

Isaak Wachenheimer
wurde am 31.07.1869 als eines von acht Kindern des Lazarus Wachenheimer und dessen Frau Charlotte, geb. Sternfels in Biebesheim geboren. Er zog nach Frankfurt um ein Juwelier Geschäft zu eröffnen. Aus Angst vor den Nazis wanderte Wachenheimer, der wegen seines Berufs von allen „Goldonkel“ genannt wurde, schon gleich mit der „Machtergreifung“ nach Kopenhagen / Dänemark aus. Als die ersten deutschen Truppen 1940 in Dänemark einmarschierten beging Isaak Wachenheimer am 14.05.1940 Selbstmord.

Rina Bruchfeld geb. Wachenheimer
war eines der fünf Kinder von Issak und Johanna Wachenheimer geb. Eppstein. Rina wurde am 16.03.1899 in Frankfurt am Main geboren. Mit ihrem in Worms geborenen Mann Walter lebten sie und ihre beiden Söhne Edwin und Franz Steffen nach 1933 in Paris. Rina Bruchfeld wurde 1942 von Frankreich nach Auschwitz deportiert und dort noch im selben Jahr ermordet.

Franz Steffen Bruchfeld
wurde am 29.06.1929 als Enkel von Isaak Wachenheimer in Frankfurt geboren. Er wurde 1942 aus dem Unterricht heraus von der Gestapo verhaftet und zusammen mit ca. 3000 anderen jüdischen Kindern und Jugendlichen nach Auschwitz gebracht. Als Todesjahr wird 1942 angegeben.

Nach Erzählung seines Bruders Edwin wurde er zusammen mit 3000 weiteren jüdischen Kindern 1942 in Paris verhaftet und in einem „Spezialzug“ zwischen Paris und Lyon vergast.

Wie die Recherchen jedoch zeigten, ist das einstige Leben und Wirken in Biebesheim in den Köpfen seiner noch lebenden ehemaligen jüdischen Bürger nach wie vor hellwach. So will sich diese Erinnerungs-Menora auch verstanden wissen als ein Beitrag, der ihrem Vermächtnis und ihrer großen Bereicherung des Biebesheimer Lebens zur bleibenden Anschauung in der Erinnerung verhilft.


Texte aus jüdisches Leben in Biebesheim Fotos Bildrachiv des Heimatmuseums Biebesheim am Rhein